Gesichtspunkte für ein 'Lebendige Architektur'

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Lebendige Architektur ist kein Stil. Es handelt sich um einen Architekturansatz, der Gebäude nicht als bloße Objekte betrachtet, sondern als Organe oder Organismen, die innerhalb der vielfältigen und miteinander verwobenen Bereiche des natürlichen, sozialen und kulturellen Lebens funktionieren. Das Ziel der Lebendigen Architektur ist es, eine gebaute Umwelt zu entwickeln, die das natürliche, soziale und kulturelle Leben unterstützt und aufwertet und dieses Anliegen zu einem künstlerischen Ausdruck erhebt. Das Ergebnis sollte unseren Bedürfnissen auf ganzheitliche und nachhaltige Weise dienen. Um eine lebendige Architektur zu schaffen, sollten die folgenden Aspekte berücksichtigt, ausbalanciert und in eine umfassende Synthese gebracht werden:

Funktion und menschliche Bedürfnisse

Alle Gebäude entstehen aus menschlichen Bedürfnissen und Bestrebungen heraus. Diese Bedürfnisse umfassen alle Aspekte des menschlichen Lebens. Sie reichen vom physischen Schutz, der Erfüllung praktischer Bedürfnisse, der Bereitstellung sozialer Räume und der Privatsphäre bis hin zum Angebot einer reichen räumlichen Atmosphäre, dem Ausdruck kultureller Inhalte und der Unterstützung spiritueller Erfahrungen.

Jeder Bauaufgabe hat seine eigenen spezifischen Anforderungen. Dennoch sollte immer die gesamte Bandbreite menschlicher Bedürfnisse berücksichtigt werden, einschließlich der Frage, wie Gebäude und öffentliche Räume auf die Allgemeinheit wirken.

Gute Architektur versucht in erster Linie, diese Bedürfnisse und Bestrebungen zu erfüllen, indem sie sowohl unser äußeres als auch unser inneres Leben unterstützt und bereichert.

Inwieweit die Bedürfnisse und Wünsche des Bauherrn und der Öffentlichkeit verwirklicht werden können, hängt von den verfügbaren wirtschaftlichen Mitteln ab. In der modernen Gesellschaft ist Geld eines der wichtigsten dieser Mittel. Geld sollte jedoch nie zum Selbstzweck werden. Auch sollte Architektur nicht zu einem Mittel werden, um auf Kosten derer, die das Gebäude später nutzen werden, finanziellen Gewinn zu erzielen.

Jeder, der zur Verwirklichung eines Gebäudes beiträgt – als Bauherr, Planer, Bauunternehmer oder Handwerker – sollte für seinen Beitrag angemessen entlohnt werden. Wer keinen fairen Lohn zahlt, baut auf Kosten eines anderen. Gleichzeitig bedeutet die Überschreitung des eigenen angemessenen Honorars oder Gewinns, dass man andere für nicht geleistete Arbeit zahlen lässt.

In dem Spannungsverhältnis, das sich oft zwischen Wünschen und Mitteln auftut, besteht die gestalterische Herausforderung darin, im Rahmen des verfügbaren Budgets ein Maximum an Wünschen des Bauherrn und Bedürfnissen der künftigen Nutzer zu erfüllen.

Der Geist des Ortes

Um ein Gebäude zu realisieren, braucht man einen Standort. Jeder Standort hat seinen eigenen, unverwechselbaren Charakter. Dieser Charakter setzt sich aus natürlichen Komponenten wie der Morphologie des Grundstücks, dem lokalen Klima und den auf dem Grundstück lebenden Pflanzen und Tieren zusammen. Hinzu kommt meist ein Geflecht von sozialen und kulturellen Komponenten wie die umgebende Bebauung, die vorhandene Infrastruktur und die Geschichte des Ortes.

Gute Architektur bezieht sich bewusst auf diesen Geist des Ortes. Das bedeutet nicht, dass sie sich dem Bestehenden unterordnen muss. Sie kann auch einen neuen Beitrag leisten, der das Vorhandene aufwertet, aber dies sollte mit Respekt geschehen.

Eine zeitgemäße Gestaltungsaufgabe ist die Revitalisierung verfallener Landschaften und Stadtbilder. Dies kann durch die Schaffung neuer Biotope und geeigneter Räume für das soziale Leben erreicht werden.

In den meisten Orten werden Bauvorschriften und Satzungen erlassen, um die Absichten der Bauwilligen mit dem Schutz der natürlichen und historischen Werte und den Interessen der bereits in dem Gebiet lebenden Menschen in Einklang zu bringen.

Diese Vorschriften sollten weder zu streng noch zu locker sein, damit sich das soziale Leben entfalten und die Architektur harmonisch entwickeln kann.

In Bezug auf den Geist des Ortes besteht die gestalterische Herausforderung darin, eine Synthese zwischen den räumlichen Bedürfnissen des künftigen Gebäudes, seiner angestrebten Identität und dem Charakter des Ortes mit den geltenden gesetzlichen Anforderungen zu schaffen.

 Baumaterialien und Konstruktion

Alle Gebäude werden aus Materialien hergestellt, die ursprünglich aus der Natur stammen und die nach ihrer Nutzung, Wiederverwendung und Wiederverwertung schließlich wieder in die Natur zurückkehren.

Gute Architektur versucht, die technischen und ästhetischen Eigenschaften von Baumaterialien zu optimieren und die schädlichen Auswirkungen ihrer Herstellung und Verwendung auf die menschliche Gesundheit und die natürliche Umwelt zu minimieren.

Hinsichtlich der Verwendung von Materialien und Energie muss ein zirkulärer Ansatz entwickelt werden, der den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes und die Auswirkungen auf Mensch und Natur berücksichtigt.

Ein Bewusstsein für die Kräfte, welche in der Konstruktion wirken, und die Schaffung von Strukturen in Übereinstimmung mit diesen Kräften kann zu hocheffizienten und ausdrucksstarken Strukturen führen.

Die Technik spielt eine Schlüsselrolle bei der Optimierung der Möglichkeiten von Materialien und der Schaffung von Bauwerken aus ihnen. Der rasante Fortschritt der Technik ermöglicht ständig innovative Bauweisen und erstaunliche neue Formen. Die Technik sollte jedoch nie zum Selbstzweck werden und die Gestaltung um ihrer selbst willen dominieren. Technik sollte immer im Dienste des menschlichen Wohlbefindens, einer guten architektonischen Qualität und der ökologischen Nachhaltigkeit stehen. Das Leben sollte nicht mechanisiert werden, sondern die Technologie sollte mit den Lebensprozessen in Einklang gebracht werden, um sie zu unterstützen und zu bereichern.

Die gestalterische Herausforderung im Umgang mit Materialien und Technik besteht darin, ihr Potenzial mit den menschlichen, ästhetischen und technischen Anforderungen des Entwurfs in Einklang zu bringen.

Ideen, Werte und Kreativität

Im Prozess der Konzeption und Gestaltung eines neuen Gebäudes fließen unzählige Ideen und Absichten in das Projekt ein. Diese stammen zum Teil vom Bauherrn und zum Teil von den am Projekt beteiligten Planern, Konstrukteuren, technischen Beratern und Handwerkern.

Alle diese Ideen sind mit Werten und einer Weltanschauung verbunden, die – bewusst oder unbewusst – in den Entwurf einfließen. Bei historischen Stilen war dies im Allgemeinen aufgrund der mythologischen oder religiösen Weltanschauung, die in den Formen zum Ausdruck kam, offensichtlich. Aber auch modernistische und zeitgenössische Gebäude bringen unweigerlich eine Vision und die Werte zum Ausdruck, die ihnen zugrunde liegen.

Wenn wir ein Gebäude benutzen oder sehen, nehmen wir diese Ideen und Werte in Form von Sinneseindrücken auf.

Gute Architektur versucht daher bewusst, inhärente Werte und eine Weltanschauung in einen künstlerischen Ausdruck zu bringen. Sie tut dies, indem sie eine räumliche Atmosphäre schafft, die diejenigen, die das Gebäude nutzen und erleben, unterstützen und inspirieren kann.

All diese Ideen und Werte erhalten ihre sichtbare Form durch das Talent und die Kreativität des Architekten oder des Entwurfsteams. Sie prägen den Entwurf und beeinflussen seinen Charakter.

Für die Gestalter ist dieser Prozess zugleich eine Form der Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung. Der Selbstausdruck sollte jedoch niemals die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer dominieren, sondern zu deren Unterstützung eingesetzt werden.

In Bezug auf Ideen und Werte besteht die Gestaltungsherausforderung darin, eine Form zu schaffen, die ihre funktionalen, technischen und ästhetischen Anforderungen erfüllt und ihren Inhalt zu einem sinnvollen Ausdruck bringt.

 

Der Entwurfsprozess

Das ultimative Ziel des Entwurfsprozesses ist es, eine überzeugende und authentische Form zu schaffen, in der alle oben genannten Aspekte integriert sind. Dies kann nicht erreicht werden, indem man nur einzelne Anforderungen erfüllt und das Ergebnis in eine modische oder trendige Form kleidet.

Um eine authentische Form zu schaffen, muss der Entwurf von innen heraus entwickelt werden, d.h. aus der Entwurfsaufgabe selbst heraus und darf nicht durch fremde, von außen hinzugefügte Elemente verfälscht werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen alle einzelnen und oft widersprüchlichen Anforderungen analysiert und durchdacht werden. Sie müssen in das Unterbewusstsein der Entwerfenden sinken, um eine neue Synthese entstehen zu lassen, in der alle Elemente zu einer neuen Einheit zusammenwachsen können.

Entwerfen ist wie eine Schwangerschaft, nicht körperlich, sondern geistig. Der Entwurf muss im Bewusstsein und Unterbewusstsein seiner Gestalter leben, muss gefördert werden, um zu wachsen und ein Eigenleben zu entwickeln. Nur wenn ein Entwurf zum Leben erweckt wird, einen eigenen Charakter und eine eigene Identität erhält, kann er das Leben derer, die ihn benutzen, fördern, ihre Seelen nähren und ihren Geist erheben.

In der entstehenden Form sollten sich die Teile des Entwurfs zum Ganzen und zueinander verhalten wie die Organe in einem lebendigen Organismus.

Während des Entwurfsprozesses ist oft zu beobachten, dass Projekte eine eigene Dynamik und einen eigenen Willen haben und erst dann zufrieden stellen, wenn alle Aspekte des Entwurfs integriert sind und sein eigener Charakter voll zum Ausdruck kommt.

Der Bauherr, der Architekt bzw. das Entwurfsteam sollten versuchen, sich dieses „unausgesprochenen Willens“ bewusst zu werden und ihm zu folgen. Er kann sich in Problemen manifestieren, die während des Prozesses auftreten. Es ist wichtig, solche Probleme als Chancen zu sehen und nach Wegen zu suchen, wie das Gebäude von ihnen profitieren kann. Diese Einstellung kann helfen, auftretende Hindernisse zu überwinden.

Lebensprozesse unterstützen

Es liegt in der Natur der Architektur, menschliche Bedürfnisse und natürliche Ressourcen, soziales Leben und Kunst, Geist und Materie in einen Dialog zu bringen, sie miteinander zu verschmelzen und in eine spezifische Synthese zu bringen. Das Ergebnis dieses offenen und sich ständig erneuernden Prozesses bildet die Welt, in der wir leben und von der wir geformt werden.

Aufgrund der Auswirkungen, die die Architektur auf unser äußeres und inneres Leben und auf die natürliche Welt, in der wir alle leben, hat, sollte die Architektur in Bezug auf die Lebensprozesse, deren Teil sie ist, konzipiert werden und diese unterstützen und bereichern.

Um dies zu erreichen, kann man sich von der Natur inspirieren lassen, indem man versucht zu verstehen, wie sie ihre hocheffizienten, nachhaltigen und schönen Formen schafft. In der Natur bilden äußere Erscheinung und inneres Wesen immer eine Einheit. Eine ähnliche Einheit sollte auch in Architektur und Design angestrebt werden. Eine seelische Qualität und eine spirituelle Dimension müssen hinzukommen, damit jedes Design nicht nur natürlich, sondern auch wirklich menschlich ist.

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