Architektur und Zeitgeist - Wesensbegegnung im Gebauten
Egoität und Ichheit
Vom Beginn der Renaissance an bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte und verband sich der Mensch immer mehr und mehr mit der irdischen Materie. Gleichzeitig trat eine neue Qualität in der Menschheitsentwicklung hervor, die Entwicklung der menschlichen Individualität, die zwar schon in griechisch-römischer Zeit veranlagt wurde, aber erst seit der Renaissance zur allgemeinen Wirksamkeit gelangte. Wenn wir uns heute fragen, was die geistige Dimension in der Architektur ist, hängt das unmittelbar mit der geistigen Lage der Menschheit zusammen, die direkt mit dem Thema der individuellen Entwicklung des Menschen in der heutigen Zeit verbunden ist.
Donato Bramante (um 1444-1514), der als einer der bedeutendsten Architekten der Renaissance den Auftrag für den Neubau der Peterskirche in Rom erhielt (ab 1506), hatte für diese Kirche – also für die wichtigste Bauaufgabe der damaligen Christenheit – das Ideal vor Augen, eine Verbindung des Prinzips der Basilika mit ihren Bögen und Schiffen (Maxentiusbasilika, 307-313 n. Chr.) und des Prinzips des Zentralraumes wie dem Pantheon in Rom (um 125 n. Chr. geweiht) zu schaffen. Im Pantheon fühlte sich der Mensch zum ersten Mal in die Mitte des Raumes gestellt – sogar die Mittelachsen der pyramidenähnlichen Kassetten der Kuppel konvergieren nicht im Mittelpunkt der Halbkugel, sondern im Mittelpunkt des Bodens, dort also, wo der Betrachter steht. Es ist bestimmt kein Zufall, dass das Pantheon nicht einem bestimmten Gott geweiht war, sondern „allen Göttern“, damit sich der Mensch auf diese Weise im Zentrum der ganzen göttlichen Welt erleben konnte. Dieser zentrale Raum ist allerdings noch als Tempel gedacht und besitzt nicht die Bewegungsrichtung, die mit der Basilika als Longitudinalbau verbunden ist. Bramante nun wollte diese beiden Prinzipien vereinen. In der Renaissance tauchte somit eine bestimmte neue Eigentümlichkeit der Individualität auf, die früher so nicht vorhanden war: Einerseits das Ich-Erleben in der Zentralität, andererseits die Bewegungs-Dynamik, das Streben des Einzelnen in eine bestimmte Richtung.
Das sind natürlich Anfänge, die nicht sofort zu einer Blüte führten, da die Verbindung mit der Materie, mit den äußeren Erscheinungsformen der Natur besonders im 18./19. Jahrhundert eher davon abhielt. Wir können also nicht sagen, dass der Prozess der Individualisierung im Sinne einer Verbindung mit dem Geistigen stetig aufwärts ging, aber man sieht in der Renaissance und im Barock, z.B. im Werk von Borromini (1599-1667), auch die damit verbundenen Anfänge der organischen Architektur, beispielsweise in dessen Ansatz, aus den Gesetzen der lebendigen Natur zu lernen.
Die Architektur des 19. Jahrhunderts mit ihrem Eklektizismus ist extremer Ausdruck der übersteigerten Egoität, wonach der Einzelne ein Haus bestellt, das seinen Träumen, Wünschen und seinem Geschmack entspricht. Der Gegensatz zwischen dem Haus Batlló in Barcelona (1904-1906) von Antoni Gaudí (1852-1926) und einem etwa zeitgleichen Gebäude von Domenèch i Montaner (1850-1923) zeigt, dass man in einer Zeit angekommen ist, wo jeder sich wünschen kann, was er will wenn er nur über das nötige Geld verfügt und wenn es vom Gesetz erlaubt ist. Es stellt sich somit die Frage nach der Freiheit der Individualität bzw. Egoität, die sich entwickeln möchte in einer Zeit, in der religiöse und gesellschaftliche Formen immer mehr an Kraft verlieren.
Wenn der Mensch sich keine besonderen Gedanken über diesen Zustand macht, dann ist es oft so, dass andere Kräfte sich an seiner statt Gedanken machen und auf verschiedene Weise versuchen, seine Weiterentwicklung in gewisse Richtungen zu lenken. Einige, sehr verbreitete Erscheinungsformen der gegenwärtigen Architektur sind Ausdruck von Kräften, die die Individualität eher bremsen möchten, die nicht zulassen möchten, dass der Mensch sich seiner Ichheit bewusst wird. Durch Wiederholung, Anonymität und Monotonie der Umgebung wird der Mensch so beeinflusst, dass der Sinn für die eigentliche Individualität getrübt wird.
Es gibt andere Kräfte, die versuchen, die Egoität so zu stärken, dass sie nichts anderes als sich selbst sieht, dass sie machtsüchtig wird und sich zu sehr mit dem Erdenstoff verbindet. In dem Torre Agbar von Jean Nouvel (*1945), einem Büro- und Wohngebäude in Barcelona aus dem Jahre 2004, kann man einen extremen Ausdruck des Stolzes und des Hochmuts erblicken. Es ist kein sakraler Bau, aber trotzdem so hoch wie die Sagrada Familia (1882 begonnen) von Antoni Gaudí und dominiert sogar noch stärker seine Umgebung. Das Machtbewusstsein, das von diesem Gebäude ausstrahlt, ist interessanterweise mit einer Farbigkeit verbunden, die an etwas wie organische Lebenssubstanzen erinnert, die allerdings nicht ganz gesund sind. Wenn man dieses Gebäude von ferne sieht, hat man das Gefühl, dass Blut über die Oberfläche fließt – ein wirklich sehr mächtiger sinnlicher Eindruck.
Es gibt noch eine weitere Art, wie diese hypertrophierte Egoität sich baulich zu manifestieren sucht. Sie geht dabei nicht so aggressiv vor wie bei dem Agbar-Turm, sondern schafft eine Art Unterhaltungsarchitektur. Diese Architektur wird meist von großen Büros wie Atkins Design Studio geschaffen, die heute mit hunderten von Mitarbeitern hauptsächlich in Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi Arabien tätig sind und solche Bilder – es sind eigentlich mehr Bilder als konkrete Gebäude – schaffen, die die Aufgabe haben, emotionale Bedürfnisse nach spielerischen Qualitäten, oberflächlichem Amüsement und immer neuen Überraschungen zu befriedigen.
Im Kleinen kann man solche Ansätze auch in Europa finden. Ein Neubauviertel in Amsterdam in der Nähe des Hauptbahnhofes zeigt das Bestreben, eine lebendige Umgebung zu schaffen, in der die einzelnen Häuser stärker individualisiert sind als sonst üblich – also die Frage nach Individualität und Vielfalt stellen. Das wird mit witzigen Fassadenelementen wie hängenden Fenstern, geschwungene Traufen, beliebige Höhenunterschiede etc. erreicht. Das alles sind Fassadengestaltungen, die meines Erachtens wenig Inhalt besitzen, umso mehr aber von der Absicht getragen sind, ein bisschen Witz in die Sache zu bringen. Im Prinzip ist wiederum kein Impuls für eine echte innere Befriedigung oder gar Weiterentwicklung des Menschen erkennbar.
Man kann natürlich fragen, was denn schlecht daran sein soll, mit Witz zu bauen. Ich vermute, dass ein Bewohner, der jeden Tag diesen „Witzen“ ausgesetzt ist, diese schon nach kurzer Zeit nicht mehr so witzig finden wird, weil sie zu oberflächlich sind und der Nutzer auf Dauer eine Art Schwächung seines Gefühlslebens erfährt; denn letztendlich wird ja die eigene Individualität in ständige Beziehung zu einem bloßen Witz gesetzt. Am häufigsten finden sich solche Erscheinungen in Osteuropa, wie z.B. bei dem Einkaufszentrum Nautilus in der Nähe des Roten Platzes in Moskau. Das Beispiel zeigt, wie viele verschiedenen Elemente, Stile und Spiele mit Formen und Farben als Ausdruck von Gefühlsströmen in einem Gebäude zusammen kommen können. Im Grunde ist das mehr oder weniger derselbe Eklektizismus, wie er am Ende der 19. Jahrhunderts in Europa auftrat. Bei meinen langjährigen Aufenthalten im Osten Europas konnte ich beobachten, dass das Leben selbst sehr oberflächlich wird, wenn die Menschen immer von solchen Gebäuden umgeben sind.
Pioniere der organischen Architektur wie Antoni Gaudí verspürten am Anfang des 20. Jahrhunderts das Bedürfnis, etwas zu tun, damit der Mensch sich der eigenen Individualität bewusst werden und Unterstützung für seine Entwicklung in der Architektur finden kann. Das haben diese Pioniere auf verschiedene Weise versucht, jeder nach Konstitution und Möglichkeiten. Ich möchte an dieser Stelle nicht das Werk dieser Architekten analysieren, sondern werde aufzuzeigen versuchen, welche Ansätze ich sehe, diesen Bedürfnissen im Sinne des heutigen Zeitgeistes entgegen zu kommen.
Spiegelung durch Architektur
Eine erste Möglichkeit ist die Spiegelung der Individualität durch Architektur, indem der Mensch in einem Gebäude einen individuellen Ausdruck wahrzunehmen vermag und dadurch auf die eigene Individualität verwiesen wird. In der Casa Milà (1906-1910) von Antoni Gaudí, einem großen Mietshaus in Barcelona, wird das Bestreben deutlich, jedem Fenster und jeder Ecke einen ausgeprägten individuellen Ausdruck zu geben. Das zeigt, dass sogar bei einem solchem Bau, der nicht für einen bestimmten Menschen, sondern für eine große Anzahl von Familien geplant wurde, die Qualität des Individuellen gespiegelt werden kann.
In einer weniger plastischen Art findet man das auch bei Frank Lloyd Wright (1867-1959). Im Unity Temple in Oak Park/Illionis (1904) kann man – trotz der großen Einfachheit der Volumen – in der Art, wie die Ansicht an der Straße gestaltet ist, die Spiegelung einer individuellen Haltung wahrnehmen. Das liegt wohl auch daran, dass der mittlere Bereich vielleicht nur 30 bis 40 Zentimeter näher an der Straße liegt als die seitlichen Elemente, und dass durch die Proportionen der Fassade der Eindruck erweckt wird, dass der obere Teil mit den Fenstern und dem Dachvorsprung wie ein Hinausschauen des Gebäudes zum Ausdruck bringt. Noch stärker kann man solche Qualitäten in den späteren Werken von Frank Lloyd Wright erleben, wie der Unitarian Church in Madison, Wisconsin (1947).
Abgesehen von den Pionieren dieser Bewegung findet man im ganzen 20. Jahrhundert viele Bauten, die die erwähnten Qualitäten aufweisen, wie z. B. die Türme der ING-Bank von Alberts & Van Huut in Amsterdam (1987). In diesem Fall ist die Art der Gestaltung auch mit der Intention verbunden, die Türme so zu individualisieren, dass trotz der Größe des Komplexes die verschiedenen Gruppen von Mitarbeitern sich mit dem eigenen Arbeitsort identifizieren können, im Gegensatz zur sonst üblichen Anonymität bei Bürogebäuden. Auch in vielen Werken Santiago Calatravas kann man sehr stark diesen Ansatz ausgeprägt finden, wie beispielsweise in der Erweiterung des Kunstmuseum in Milwaukee (1994-2000), wo man im Vergleich zur ING-Bank von außen eine stärkere Dynamik, eine Bewegungsqualität wahrnehmen kann.
Gerade dieser Bau führt uns zu einem zweiten Aspekt, inwieweit auch ein Innenraum eine Gelegenheit zur Spiegelung der Individualität bieten kann, denn die Wahrnehmung der Ansicht ist ja nur ein erstes Moment in der Begegnung mit einem Bauwerk. Als ich mich anlässlich eines Vortrages mit dem Thema Innenraum beschäftigte, war ich erstaunt zu bemerken, wie es auch in der Innenraumgestaltung durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch ein Grundprinzip gibt, das mit der Idee von Bramante zu tun hat, das aber eben erst im 20. Jahrhundert sich verbreiten konnte. Das können wir im Museum von Milwaukee beispielhaft sehen. Ein Raum, der sich vom Eingang aus etwa bis zur Mitte der Gesamtlänge erweitert und dann wieder enger wird und zu einem Abschluss (in diesem Fall mit einer Spitze) kommt. Dadurch entsteht ein Gefühl für die Verbindung von Zentralität und Dynamik: Man bewegt sich in die Richtung der Symmetrieachse, man kommt zu einem Erlebnis von Erweiterung und dann von Zentrum, man bleibt aber nicht im Zentrum stehen (wie im Pantheon), sondern man bewegt sich weiter, man bekommt einen Impuls zur Weiterentwicklung, zur Überwindung der reinen Egoität. Das ist ein Raumprinzip, das sich als ein Leitmotiv durch die ganze organische Architektur des 20. Jahrhunderts zieht.
Ein Urbild dafür bzw. einer der frühesten Räume dieser Art ist der Saal des zweiten Goetheanums, der sich in Richtung der Bühne öffnet und die Idee der Doppelkuppel oder der Durchdringung von Zuschauer- und Bühnenraum in sich birgt. Die Raumdurchdringungen in der Krypta Güell von Gaudí, die nicht vom Goetheanum abgeleitet ist, zeigt, dass Motive gleichzeitig an verschiedenen Orten am Anfang des 20. Jahrhunderts als Ausdruck des Zeitgeistes auftauchten.
Innere Haltung und Gestaltungsqualität
Bisher habe ich über Spiegelungen der Individualität gesprochen. Auch im Innenraum kann es eine Spiegelung oder mehr eine innere Wahrnehmung dieser Qualität geben. Der Aspekt der Entwicklung kann sich noch ausdrucksvoller durch die Metamorphose und durch die Verwandlung der Formen entfalten, wie im Äußeren des zweiten oder im Inneren des ersten Goetheanums zu sehen ist. Architekten wie Jens Peters (*1934) haben versucht, in ihren Bauwerken das Entwicklungsgefühl zu vermitteln. In der Waldorfschule in Salzburg (1. Bauabschnitt 1991-1994, 2. Bauabschnitt 2008; vgl. Mensch+Architektur Nr. 61/62) befinden sich die verschiedenen Teile offensichtlich in einem Entwicklungs- und Verwandlungsprozess, obwohl in diesem Fall, denke ich, keine Metamorphose wie in den Formen des ersten Goetheanums zu finden ist. Das heißt, durch diese Gestaltung wird die Bestrebung, der Impuls zur Entwicklung erlebbar, auch durch die Gestaltung der Dächer und durch die gesamte Bewegung des Gebäudes.
Ein weiterer Aspekt neben der Spiegelung der Individualität und der Anregung zu ihrer Entwicklung ist die Vermittlung von inneren Haltungen, die ja die innere Entwicklung unterstützen. Dabei geht es darum, den Ausdruck des Gebäudes tiefer und bewusster zu empfinden und ihn mit gewissen seelischen Qualitäten zu verbinden. Das heißt im Grunde genommen, dass ein Architekt, der so etwas anstrebt, auch in der Lage sein muss, die inneren Haltungen zu erspüren, die eine Entwicklung oder eine Verbindung zum Geistigen ermöglichen. Denn wenn man akzeptiert, dass eine Individualität als etwas Wesenhaftes existiert, kommt man zwangsläufig darauf, dass sich diese Entwicklung der Individualität in innerem Zusammenhang mit dem Wesenhaften in der Welt, das man auch „das Geistige“ nennen kann, befindet.(Hier Fussnote: „Deswegen beschreibt Rudolf Steiner die Anthroposophie als einen Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltenall führen möchte (konnt Ihr bitte den genauen Zitat aus den Statuten der AAG hinzufügen?)) Das bedeutet, dass die Individualität, die sich durch die Jahrhunderte vom Geistigen immer mehr abgesondert und mit der Materie immer mehr verbunden hat, wieder einen Zugang zum Geistigen finden muss. Das ist die Entwicklungsperspektive. Die Architektur kann Qualitäten und Haltungen in sich tragen, die für die Menschen hilfreich sind, um auf diesem Weg vorwärts zu schreiten.
Im Kindergarten von Bergen (1981), einem Entwurf von Espen Tharaldsen, können wir eine Liebeshaltung, eine Liebesgeste wahrnehmen, die durch dieses Gebäude zum Ausdruck kommt und wirklich von den Menschen aufgenommen werden kann als ein Beispiel, wie man sich zur Umgebung und zu den Mitmenschen verhalten kann. Eine andere Qualität ist zum Beispiel die Offenheit zur Welt, wie sie bei dem Kulturhaus in Järna (1992) von Erik Asmussen (1913-1998) in der Ansicht zur Hauptstraße zum Ausdruck kommt. Der in der Landschaft lang gestreckte Baukörper öffnet sich der ganzen Umgebung und zeigt an den beiden Seiten zwei Elemente, die durch die vertikalen Akzente diese Bewegungen verstärken und in einer Art Bewusstswerdung zum Abschluss bringen.
Gebäude als Hilfe zur Geistesschulung
Das Verständnis für diese Qualitäten hilft, die Intentionen und die Eigenschaften der organischen Architektur auf eine nicht dogmatische Art zu beschreiben und sie mit anderen Ansätzen zu vergleichen. Eine objektive Bewertung der Architektur braucht eine konkrete Grundlage, die meines Erachtens nur in der Beobachtung der Auswirkung der Bauwerke auf die Entwicklung des Menschen liegen kann. Die Aktualität der Architektur Rudolf Steiners (1861-1925) liegt für mich gerade darin, dass Gebäude wie das Goetheanum in höchstem Maße viele der erwähnten Qualitäten in sich vereinen. Der Außengestaltung des zweiten Goetheanum (ab 1924) hat Rudolf Steiner z. B. die grundlegenden Haltungen einverleibt, die für einen Menschen notwendig sind, der sich auf den Weg der Geistesschulung oder inneren Entwicklung begibt. Wenn man die Westfassade lange genug auf sich wirken lässt, wird man erkennen, dass sie eine innere Haltung ausstrahlt, die mit den Eigenschaften des Geistesschülers verbunden ist. Ein Aspekt ist z. B. die Verbindung von Konzentration und individueller Kraft, besonders dank der Form des oberen Fensters und der vertikalen Symmetrieachse; oder die große Offenheit, die man eher im unteren Bereich auf der Ebene der Terrasse findet. Dieses Gebäude verbindet die beiden Seelenqualitäten, die im Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ von Rudolf Steiner als grundlegende Voraussetzungen der Geistesschulung dargestellt werden: „Ein offenes Herz für die Bedürfnisse der Außenwelt“ und „innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer“1. In diesem Sinne ist das Goetheanum eigentlich ein Objekt, in dessen Ausdruck man sich versenken kann, um sich einige Qualitäten anzueignen, die man benötigt, um in der eigenen Entwicklung fortzuschreiten.
Dasselbe kann man aber auch über viele andere Bauten sagen. Bei dem erwähnten Unity Temple von Frank Lloyd Wright findet man bis zu einem gewissen Grad die Qualität, die man im zweiten Goetheanum findet und meines Erachtens auch eine erstaunliche Ähnlichkeit im Ausdruck der beiden Gebäude, in der Art, wie sie schauen, in der inneren Haltung, die sie vermitteln. Das bedeutet, dass wohl beide Architekten ein ähnliches Empfinden gehabt haben müssen für diese Qualität des Hineinschauens in eine andere Welt, in einen übersinnlichen Bereich.
Umgang mit Wesenhaftem
Eine letzte Ebene möchte ich noch ansprechen, mit deren Hilfe der Mensch einen Zugang zum Geistigen finden kann. Sie betrifft die Bildung einer Umgebung, in der der Mensch nicht nur seine eigene Individualität wahrnimmt, sondern in der er empfindet, dass er auch von anderen geistigen Wesen umgeben ist, wo er sich schulen kann, andere Geisteswesen außer sich selbst und seine Mitmenschen wahrzunehmen. Besonders beim Heizhaus des Goetheanum in Dornach, 1914 nach Entwürfen Rudolf Steiners errichtet, kann auffallen, dass es nicht um eine Spiegelung der menschlichen Individualität geht, sondern um den Ausdruck einer anderen Qualität des Geistigen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man das Goetheanum und die herumliegenden Bauten von Rudolf Steiner als eine Art Kolonie von verschiedenen Wesen, die miteinander in Verbindung stehen, betrachten.
Ähnliches kann man sagen über den Bahnhof des Flughafens Saint-Exupéry in Lyon (1989-1994) von Santiago Calatrava. Da ist auch etwas von einer nicht menschlichen Natur zu erleben, ohne bewerten zu wollen, ob sie gut oder schlecht ist. Trotzdem kann man direkt empfinden, da kommt etwas dem Menschen entgegen, was außerhalb seines Menschseins liegt. In Verbindung mit der Bauaufgabe kann es sich diesbezüglich auch um den Ausdruck des Wesens einer Gemeinschaft, z. B des Wesens einer Schule handeln. Diese Haltung kann nicht nur in der Hauptgestaltung eines Baus auftauchen, sondern auch in Detailelementen, wie im erwähnten Bahnhof, wo viele Elemente von dieser Qualität sprechen, wo der Mensch sich ständig mit diesem Wesenhaften konfrontiert sieht, z. B. durch die Abschlusselemente der Treppengeländer. Das Interessante ist, dass in den letzten Jahren diese erwähnten Aspekte immer mehr Verbreitung gefunden haben auch unter Architekten, die es nicht von Anfang an angestrebt haben.
Ich glaube, dieses Phänomen hat damit zu tun, dass der Zeitgeist von den Architekten und den Menschen allgemein heute immer stärker empfunden wird. Das geschieht durch die Entwicklung, die wir im letzten Jahrhundert durchgemacht haben, und auch im Zusammenhang mit dem, was Rudolf Steiner als „Überschreiten der Schwelle“ der geistigen Welt für die ganze Menschheit am Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben hat. Das ist ein Prozess, der mit der Zeit immer stärker wird, sich immer weiter fortsetzt. Aber man bemerkt auch, dass ohne ausreichendes Bewusstsein für die wahren Bedürfnisse des Menschen, dieses Empfinden des Zeitgeistes sich in einer Form zeigt oder verkörpert, die nicht immer förderlich ist für den Menschen. Man hat das Bedürfnis, etwas Wesenhaftes wahrzunehmen, aber dieses Wesenhafte nimmt alle möglichen Formen, alle möglichen Qualitäten an, die auch zufällig oder wild sind (wie z.B. im Innenraum der DZ-Bank am Pariserplatz in Berlin von Frank Gehry). Nicht zuletzt kann es auch schädliche Wirkungen geben, wenn diese wesenhafte Qualität nicht bewusst ergriffen wird.
Neben vielen bewegten Beispielen von Gehry, Foster oder Zaha Hadid sehen wir parallel gehend eine immer stärkere Verhärtung in der Architektur, wo man eher die materialistisch-aufgefasste Funktionalität und die Reinheit der Formen ins Zentrum stellt. Vieles von dem, was heutzutage besonders in Mitteleuropa gebaut wird, ist durch ein starkes Todesgefühl bis in der Wahl der Materialien (meistens Stahl, Beton und Glas) und die Farbigkeit (am liebsten Grau, Weiss oder Braun) hinein geprägt. Dieser Strom der Verhärtung basiert auf einer Weltanschauung, die die Entwicklung der Technik als Hauptmerkmal und als wesentlicher Kulturfaktor unserer Zeit sieht. Schon Le Corbusier begeisterte sich am Anfang des 20. Jhdt für die Esthetik der Maschine und nannte seine Entwürfe von Häusern „Maschinen zum Wohnen“, damit eine Richtung zeigend, die allmählich zum Auschluss alles Lebendigen aus der Architektur führt. Dahinter steckt meines Erachtens eine grosse Angst vor dem Geistigen und vor dem Unberechenbaren, das sich im seelischen Bereich abspielt.
Diese Art von Architektur hat auch einen gewissen Einfluss auf die organisch planenden und gestaltenden Architekten ausgeübt, sei es aus ökonomischen Gründen, sei es wegen der Vorschriften, die nichts anderes ermöglichen (was in vielen Fällen tatsächlich so ist), oder weil man sich einfach anpassen möchte an das, was in der Welt für modern gehalten wird. Sicher ist die Beschäftigung mit den Tendenzen, die in unserer Zeit leben, notwendig, aber zusammen mit dieser ernsten Beschäftigung braucht man eine lebendige und bewusste Beziehung zum Wesen des Zeitgeistes, um nicht in eines der Extreme zu verfallen und um etwas Positives beitragen zu können. Deshalb wollte ich das zeigen, dass für mich dieser Aspekt der Weiterentwicklung der Menschen ganz wesentlich ist.
Anmerkungen
1 Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Dornach 1993, S. 108.
Veröffentlicht in M+A, 8/2009