Die Spiegelung der Architektur im physischen Leib des Menschen

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Nachdem ich im Jahr 2000 den Auftrag bekommen hatte, die Architekturabteilung der Sektion für Bildende Künste am Goetheanum zu koordinieren, begegneten mir verschiedene Ansätze bei der Betrachtung von Bauwerken. Derjenige, der am häufigsten vorkam und von seinen Vertretern als «goetheanistisch» bezeichnet wurde, beinhaltete als Erstes eine genaue Beschreibung des Gegenstandes der Betrachtung. So wurden Linien, Formen, Farben usw. – z. B. in einer Gruppenübung – genau beschrieben. Allerdings erreichte man keine besondere Einsicht bezüglich der Wirkung, des Sinnes oder des Wesens des Gebäudes. In der Regel passierte es, dass man, nach der Beschreibung, zurück zu Gefühlsurteilen und Eindrücken überging, was mir eher fragwürdig zu sein schien. Sicherlich kann eine genaue Beobachtung des Objektes hilfreich sein, aber ein tieferes Verständnis der Architektur kann nicht allein durch die Beschreibung der physischen Gegebenheiten entstehen. Ich hatte das Gefühl, dass es mehr um die innere Einstellung des Betrachters gehen sollte, wenn man tiefere Aspekte wahrnehmen möchte. Ein Hauptanliegen meinerseits war es, zu einem objektiven Erlebnis der Wirkung der Architektur auf den Menschen zu kommen. Dieses Thema spielt eine zentrale Rolle sowohl im Beurteilen der Qualität eines Bauwerkes als auch im Entwerfen, wenn der Planer Verantwortung für die Resultate seiner Arbeit empfindet. Ein solches Verantwortungsgefühl ist eine der Grundlagen, vielleicht die wichtigste, für die Entstehung der organischen Gestaltung, die sich unter anderen gerade durch die Ablehnung des Willkürlichen von anderen Ansätzen unterscheidet. Ich versuchte daraufhin, mit der Haltung der «reinen Wahrnehmung» Bauten zu betrachten, das heißt, in einem kontemplativen Zustand die Wahrnehmungen ohne Vorurteile, persönliche Gefühle und Gedankenassoziationen auf mich wirken zu lassen und dabei die Folgen dieser Wirkung zu beobachten. Sich in eine solche Lage zu versetzen, ist um so einfacher, wenn man sich mit den Übungen des anthroposophischen Schulungswegs beschäftigt. Dank dieser bewusst geübten Art des Schauens merkte ich bald, dass unterschiedliche Architekturformen auch unterschiedliche Empfindungen im physischen Leib hervorrufen und verschiedene Elemente desselben Gebäudes an verschiedenen Stellen im Leib sich widerspiegeln können und, je nach ihrer Gestaltung, bestimmte Resonanzen verursachen. Wenn man in der Lage ist, diese Wirkungen im Leib genau zu beobachten, kann man auch zu einem Verständnis des unbewussten Einflusses der Architektur auf den Menschen – bis in die zivilisatorischen Aspekte hinein – kommen. So kann man zum Beispiel erleben, wie die Spitze eines gotischen Bogens ein Gefühl von Konzentration in einem Punkt des Leibes – in der Regel im Stirn- oder im Brustbereich, je nach Veranlagung des Einzelnen – bewirkt, wobei die beiden Bogenhälften und die Pfeiler ein beruhigendes Gefühl von Abwärts-Strömen in den Gliedern wecken, das gleichzeitig zum Sich-Aufrichten stimuliert. Daraus kann man die allgemeine Wirkung der Gotik im Bereich der Stärkung des individuellen Bewusstseins als Vorstufe zur Renaissance verstehen. Solche Erlebnisse sind nicht subjektiv, denn die Erfahrung zeigt, dass alle Menschen, die bei der Betrachtung die beschriebene kontemplative Haltung entwickeln können – und das können mit ein wenig Anleitung fast alle – zu ähnlichen Empfindungen kommen. Im Laufe der Jahre habe ich Betrachtungen mit Gruppen von Architekten und Laien aus ganz verschiedenen Ländern und Altersgruppen unternommen, und immer war ich darüber erstaunt, wie schnell die meisten Teilnehmer zu eigenen, objektiven Wahrnehmungen kommen konnten. Auch diejenigen, die Schwierigkeiten haben, die gewöhnliche Anschauungsart zu verlassen, können meistens mit etwas Anstrengung die Aufmerksamkeit auf die Wirkungen im eigenen Leib lenken. Raumgrenzen innerlich ertasten Ich entwickelte den beschriebenen Ansatz zunächst in Zusammenhang mit den Architekturformen, die aus konstruktiven oder dekorativen Elementen bestehen. In der Raumwahrnehmung spielen die einzelnen Elemente und das Konstruktive nicht die Hauptrolle. Die Wirkung des Raumes ist auch anders als die der Formen. Sie zeigt sich nicht durch den Einfluss auf gewisse Bereiche des Leibes. Um sie bewusst wahrzunehmen, muss man in der kontemplativen Haltung auch aktiv werden und die Raumgrenzen innerlich ertasten, als ob man den eigenen Leib der Raumform anpassen würde. Dabei ist es auch wichtig, die Form des Raumes wie in einer inneren Bewegung zu spüren. Wenn man das tut, erlebt man die Wirkung des Raumes auf den Leib und die Seele. Sie ist schwieriger zu erfassen als die Wirkung der einzelnen Elemente, besonders bei komplexen Gestaltungen. Aber auch bei verhältnismäßig einfachen Räumen ist es so, dass man unterschiedliche Eindrücke von verschiedenen Gesichtspunkten aus bekommt. Die Aufgabe ist dann, die Vielfalt der Erlebnisse innerlich zusammenzutragen, um allmählich zum Erlebnis der wesentlichen Qualitäten zu kommen. Um diese Art der Raumbetrachtung zu üben, bevor man zu realen Situationen übergeht, schlage ich oft zuerst eine Gruppenarbeit vor, bei der die Teilnehmer aus Karton- oder Kunststoffplatten in der Größe von etwa 1 x 1,5 Meter verschiedene Raumgrundrisse bilden und diese versuchen, von innen zu erleben. Sogar unter solchen einfachen und etwas abstrakten Umständen bekommen die Teilnehmer starke Eindrücke und können dadurch die Wirkung von Formen wie Polygonen und Ovalen erleben und miteinander vergleichen. Wenn man die Grundrissform – z. B. von einem Dreieck in ein Sechseck – verwandelt, ohne dass die Betrachtenden den gebildeten Innenraum verlassen, kann man sogar im Gesichtsausdruck und in der Gestik bemerken, wie unmittelbar sich die Stimmung im Übergang von der einen Form zur anderen verändert.

Raumwahrnehmungsübung in der Alanus Hochschule in Alfter, März 2024 © Luigi Fiumara 

Wiederum wird es bei solchen Versuchen offensichtlich, dass die erlebten Wirkungen keineswegs subjektiv und willkürlich sind. Sie bleiben allerdings für diejenigen, die ihnen keine Aufmerksamkeit schenken, weitgehend unbewusst. Die beschriebene Anschauungsweise hilft, solche unbewussten Prozesse ans Licht zu bringen, um auch im Hinblick auf die Entwurfspraxis, ein Verständnis für die Folgen der eigenen Entscheidungen zu entwickeln. Neben den Wirkungen auf den physischen Leib und seinen ätherischen Kräftestrom gibt es noch diejenigen, die sich primär im seelischen Bereich abspielen. Ein eminentes Beispiel davon sind die Farb- und Lichtwirkungen, aber auch Aspekte der Formen, die weniger konstruktiv sind, sondern eher plastisch – dekorativ, wie die Ornamente in einem historischen Bau. Das heißt nicht, dass die Einflüsse auf den Leib keine Wirkung auf die Seele ausüben, sie sind sogar in der Regel stärker als die rein seelischen Wirkungen. Dafür sind die letzteren leichter bewusst zu erfassen, denn sie spielen sich in einem Bereich ab, wo der Mensch wacher ist und gewohnt ist zu beobachten. Aus diesem Grund ist es leider oft so, dass man sich bei der Architekturbetrachtung eher auf die seelische Ebene beschränkt, ohne tiefer einzudringen. Für ein ganzheitliches Erlebnis ist es aber wichtig, alle Ebenen einzubeziehen, vor allem, da die seelische Ebene subjektiver als die physische ist. Ich finde es deswegen hilfreich, wenn man bei der Betrachtung von Bauwerken sich zuerst die Wirkungen auf das Physische bewusst macht, und erst danach die seelischen Wirkungen miteinbezieht. Man wird dabei auch merken, dass ein großer Teil dessen, was im Seelischen erlebt wird, durch die Einflüsse auf das Physische verständlich wird. Diese Erfahrung könnte im Sinne des Bauimpulses von Rudolf Steiner als Hinausprojizierung der Kräfte des physischen Leibes in den Raum bezeichnet werden. So kann man durch die Beobachtung des eigenen Leibes unter dem Einfluss der Architektur erleben, aufgrund von welchen Kräften die Formen entstanden sind.

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift „Stil“, Johanni 2024, 46. Jhg Heft 2

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