Die 12 Sinne – Grundlage der Raumwahnehmung

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Ohne die Sinne haben wir keine Wahrnehmung dieser physischen Welt. Unsere Sinne sind die Tore zur Welt. Mit den Sinnen verankern wir uns als Menschen in der Welt und erleben so Sicherheit und Eingebundensein. Wir müssen lernen, unsere Sinneseindrücke zu strukturieren und mehr Bewusstsein in der Sinneswahrnehmung zu entwickeln. Gerade das ist eine wichtige Grundlage für die Arbeit als Architekt und Gestalter. Denn unsere Sinne sind die Organe, mit denen wir die Architektur wahrnehmen. Ich möchte einen Weg aufzeigen, mehr Bewusstsein – und auch genauere Begriffe – für die Sinneswahrnehmung zu entwickeln. Was wir in der Wahrnehmung als eine komplexe Einheit erleben, muss differenziert und gegliedert werden. Für die vielschichtigen Bereiche der Sinneswahrnehmung haben wir die verschiedensten Wahrnehmungsorgane, die wir kennen müssen. Nur so sind wir fähig, unsere Wahrnehmungen für uns fruchtbar einzuordnen und zu bewerten. Bei jeder Wahrnehmung spielen immer mehrere Sinne zusammen, wobei ein Sinn die Leitfunktion hat. Diese Leitfunktion ist ganz eng mit unseren Intentionen verbunden, auf was wir unsere Sinne richten, von was sie angezogen werden. Die Physiologie spricht heute von circa acht bis zehn Sinnen, die aber nicht sehr differenziert und abgegrenzt erfasst sind. Ein schlüssiges Konzept mit zwölf Sinnen hat Rudolf Steiner zwischen 1909 und 1924 entwickelt und den menschlichen Wesensgliedern (Leib-Seele-Geist) zugeordnet. Auf dieser Grundlage gab es viele Vertiefungen, z. B. von Willi Aeppli in seiner Schrift „Sinnesorganismus, Sinnesverlust Sinnespflege“ (Willi Aeppli: Sinnesorganismus Sinnesverlust Sinnespflege. Die Sinneslehre Rudolf Steiners in ihrer Bedeutung für die Erziehung, Stuttgart 1979) im Zusammenhang mit Erziehungsfragen. Einen wesentlichen Beitrag für die Beziehung zur Architektur leistete Hans Jürgen Scheuerle in seiner Arbeit zur Gesamtsinnesorganisation (Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation, Stuttgart 1984) und zur Konkretisierung zu den Modalitäten. Dieser Ansatz ist für mich eine wesentliche Grundlage zum bewussten Umgang mit den Sinnen und ihrer Beziehung zu den Elementen der Architektur. Die zwölf Sinne sind der Tastsinn, der Lebenssinn, der Bewegungssinn, der Gleichgewichtssinn, der Geschmackssinn, der Geruchssinn, der Sehsinn, der Wärmesinn, der Hörsinn, der Sprachsinn, der Gedankensinn und der Ich-Sinn. Im Folgenden kann ich nur beispielhaft auf einzelne Sinne eingehen. Diese zwölf Sinne gliedern sich in drei Gruppen oder Modalitäten, die Leibsinne, die Raum- und die Zeitsinne.

Die Leibsinne

Die ersten vier Sinne können wir die Leibsinne nennen. Sie geben uns Aufschluss darüber, wie wir mit unserem Physischen in der Welt stehen. Es sind die Sinne der Eigen- oder Körperwahrnehmung (siehe Schaubild). Hier wollen wir eine kleine Übung machen. Suchen Sie sich einen kleinen Gegenstand z. B. einen kleinen Stein aus. Spüren Sie nach, was Sie erleben: Druck auf die Haut, spitzig oder glatt – das ist ein Tasterfahrung. Für die Tasterfahrung müssen Sie den Gegenstand ständig bewegen, also Ihren Bewegungssinn aktivieren. Aber Sie erleben noch etwas, die Schwere, das Gewicht des Steines. Das erleben Sie mit dem Lebenssinn. Und Sie erleben noch die Temperatur: ist der Stein kalt oder warm, von der Sonne beschienen? Da erleben wir den Wärmesinn. Sie sehen, wie vielfältig diese kleine Tastübung ist und wie wir die weiteren Sinne unwillkürlich auch aktivieren. Der Gleichgewichtssinn vermittelt uns unsere Lage unseres Leibes in Bezug zu den Raumesrichtungen: links, rechts, vorne, hinten, oben, unten. Der Eigenbewegungssinn gibt uns Aufschluss über die Lage und Stellung unseres Körpers und unserer Glieder, er registriert Lageveränderungen. Äußere Bewegungen nehmen wir dadurch wahr, dass wir sie innerlich in unserem Körper mitmachen. Das Organ des Bewegungssinns finden wir in unserer Muskulatur, in der Verkürzung und Verlängerung der Muskeln. So nehmen wir über die Muskulatur im Auge Bewegungen und Formen außerhalb unseres Selbst wahr.

Die Raumsinne

Die nächste Gruppe dieser Zwölfheit sind die Empfindungs- oder Raumsinne: der Geschmackssinn, der Geruchssinn, der Sehsinn und der Wärmesinn. Sie vermitteln uns seelische Eindrücke. Der Geruchssinn z. B. vermittelt uns, was in der Luft liegt. Im Raum warnt er uns zum Beispiel, wenn wir Brandgeruch riechen. Der Geruchssinn ist immer aktiv, kommt uns aber erst ins Bewusstsein bei einer Veränderung in der Umgebung. Dennoch ist er ganz präsent, wenn wir z. B. in ein Haus kommen und uns ein bestimmter Geruch entgegentritt. Ein Geruch, den wir aus einer anderen Situation kennen, z. B. aus unserer Kindheit, bei den Großeltern. Wenn wir nun dieser Wahrnehmung folgen, befinden wir uns im Haus der Großmutter mit allen seelischen Empfindungen von damals. Das Geruchserlebnis ist stark an den Raum und Ort und unser früher Erlebtes gebunden. Dies taucht aus dem Halbbewusstem auf, unser Bewusstsein hat darauf keinen direkten Zugriff. Unser Sehsinn ist unser Leitsinn, besonders in unserer heutigen, visuell geprägten Kultur. Wir nehmen die Farben, Licht, hell und dunkel, Kontraste, aber auch Formen, Formate wahr. Wir haben ein eindeutiges Sinnesorgan, aber es vermittelt uns mehr als nur das Optische. Wir sehen, wie komplex die Thematik ist und «das Sehen» nicht nur auf die Optik des Auges beschränkt ist. Wir haben visuelle Wahrnehmungen, die sofort Empfindungen hervorrufen. Mit dieser Sinnesgruppe – Geschmackssinn, Geruchssinn, Sehsinn und Wärmesinn –erschließen wir uns den Raum. Wir verlassen unseren Leib. Wir fühlen uns im Raum, wir verbinden uns aktiv mit unserem Umraum. Wir können sie auch die Raumsinne nennen.

Die Zeitsinne

Die nächste Sinnesgruppe sind die über den Raum hinausweisenden Sinne, die Zeitsinne. Ihre Qualitäten sind nur in der Zeit erlebbar. Diese Sinne stehen in enger Beziehung zu den Willenssinnen unserer Leib- oder Eigenwahrnehmung. Sie bedürfen der Fähigkeiten der Leibsinne, die Wahrnehmungsrichtung ist aber, anstatt auf unseren Leib, durch unser Bewusstsein nach außen auf den Mitmenschen, auf Beseeltes und Wesenhaftes gerichtet. Vor diesem Hintergrund können wir bei dieser Gruppe auch von Sozialsinnen sprechen. Zu ihr gehören der Hörsinn, der den Übergang bildet, von den gefühlsverwandten zu den denkorientierten Sinnen der Sprachsinn, der Gedankensinn und der Ich-Sinn. Ein Musikstück oder ein Gespräch lässt sich nicht festhalten, es entwickelt sich auf dem Zeitstrahl. Wir haben also drei Sinnes- oder Modalbereiche kennengelernt. Die Leibsinne, die Raumsinne und die Zeitsinne.

Sinne und der Bezug zur Architektur

Im Folgenden sollen in aller Kürze die Bezüge zur Architekturwahrnehmung und den Architekturelementen aufgezeigt werden. Die leibbezogenen Sinne bleiben uns in der Regel ganz unbewusst. Sie verankern uns in der Welt und lassen uns die Architekturqualitäten direkt im eigenen Leib erleben (siehe Schaubild). Wenn alles stimmig ist, uns nichts aus dem Gleichgeweicht bringt, haben wir meist kein Bewusstsein davon. Wir bewegen uns sicher im Raum, haben aber keine bewusste Leiberfahrung. Die Architekturbezüge zu diesen Sinnen sind die Raumesrichtungen, die Konstruktion und Statik, Tragen und Lasten, die Dynamik im Raum, der Materialhaftigkeit, das natürliche, strukturierte Material, die Oberflächen. Das lässt sich an folgenden Beispielen gut nachvollziehen: Befinden wir uns in einem Raum mit senkrechten Fenstern, können wir diese Senkrechte in unserem Rücken und in unserer Wirbelsäule spüren. Wie werden aufgerichtet. Hat der Raum «liegende» Fenster, so können wir in unserem Leib das Bedürfnis erspüren, uns in die Waagerechte zu begeben. Betrachten wir schräg stehende Stützen, wird in uns eine Aktivität erzeugt, uns gegen diese Schräge in die Senkrechte zu bringen. Wie erleben in uns das Bedürfnis, die Senkrechte wieder herzustellen. Diese Wahrnehmungen sind uns meist nicht bewusst, aber sie wirken auf uns. Die Wahrnehmung der Raumsinne ist uns, wie am Beispiel des Geruchssinnes dargestellt, halb bewusst. Nur wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, treten sie in unser Bewusstsein, dennoch erzeugen sie einen mittelbaren unbewussten Eindruck. Zum Beispiel nehmen wir Gerüche wie oben dargestellt wahr, wenn sie eine große Differenz und Diskrepanz zu unserer Erwartung erzeugen. Da ist also etwas Unerwartetes. Auch der Temperatursinn oder Wärmesinn tritt nur dann ins Bewusstsein, wenn uns kalt oder zu warm wird. Die Aktivität des Sehsinns wird uns nur partiell bewusst. Wenn wir zum Beispiel selbst Auto fahren, nehmen wir die wenigsten Dinge bewusst wahr. Wer kann nachher noch sagen, welche Farbe das Haus hatte, an dem wir vorbeigefahren sind, wenn es nicht unsere Aufmerksamkeit erregt hat. Diesem Sinnesbereich können wir spezielle Architekturwahrnehmungen zuordnen. Die Gerüche, Farben, Licht und Schatten, Raumtemperatur, Stimmung sind die Elemente in der Architektur, mit denen wir die Atmosphäre, die Stimmung im Raum erleben. Dies sei an einem Beispiel aufgezeigt. Stellen wir uns vor, dass wir einen im lebendigen Terrakotta gestrichenen Raum betreten, wo das Licht durch ein Fenster hereinfällt und die Fenstersprossen Schatten auf dem blaugrauen Terazzoboden zeichnen. Wir fühlen den Schutz und die Wärme der Wände und die Kühle vom Boden – Farbe und Licht stimmen uns heiter. «Das Herz geht uns auf.» Für die Wahrnehmung der Zeitsinne ist in der Regel unsere Aufmerksamkeit gefordert. Es sind die Sinne, die nur mit Bewusstsein aktiv sind. Mit diesen Sinnen nehmen wir die folgenden Architekturqualitäten wahr, den Klang des Raumes, die Proportionen, die Form und Gestalt, die Idee des Raumes, bis hin zu einem Wesenhaften des Gebäudes. Wenn wir die Eindrücken der vorigen Sinne auf uns wirken lassen, dann spricht der Raum zu uns. Durch unser eigenes Sprechen oder Singen im Raum antwortet der Raum aufgrund seiner Akustik, seines Nachhalls oder seiner akustischen Stumpfheit. Wir erleben die Gesetzmäßigkeit seiner Proportionen, und wir erahnen die Gestalt des Raumes.

Bewusstsein im Wahrnehmen

Wenn wir diese tiefere Wahrnehmung der Architektur üben wollen, müssen wir zum einen mehr Bewusstsein, besonders für die Wahrnehmung der Leib und Raumsinne, entwickeln. Sie bilden ja auch die Grundlage für die höheren Zeitsinne. Ohne Bewusstsein für unsere eigene Leibwahrnehmung können wir die Sinneserlebnisse nicht einordnen. Uns fehlt die Erkenntnisgrundlage, wie der Raum auf uns einwirkt. Dieses ist aber die Grundlage dafür, die Architekturqualitäten bewusst beim Gestalten von Architektur einzusetzen. Wir haben ja bei der Übung der Sehwahrnehmung beispielhaft festgestellt, dass wir zunächst hinaus gezogen sind zum Objekt, dann aber zurückgeworfen werden in unser Selbst. Wir gleichen das Bild ab mit unseren früheren Wahrnehmungen, unseren daraus entwickelten Begriffen und unseren Vorstellungen. Dann projizieren wir diese wieder in die Welt. Wollen wir die Wahrnehmung weiter entwickeln, sollten wir mit folgender Intention vorgehen. Dehnen wir unseren Sehprozess aus, lassen wir den intentionalen Blick für einzelne Details zurück und bewegen uns mit einem geweiteten Sehen im Raum, versuchen zunächst zu spüren und dann ins Bewusstsein zu heben, was uns die anderen Sinne entgegenbringen. Es wird eine Übungsaufgabe sein, ganz im Wahrnehmen zu bleiben, den reinen Wahrnehmungsprozess auszudehnen. Zum Beispiel beim Sehen, genau zu beobachten, was geschieht, welche anderen Sinne beteiligt sind. Wo entstehen Resonanzen bei uns in unserem Körper, in unserer Empfindung, in unserem Erkenntnisleben? Wenn wir versuchen, möglichst lange mit unserer Wahrnehmung im Raum zu bleiben, können wir die Erfahrung machen, dass sich auch Neues zeigt, da nicht gleich unsere Vorstellungen den Wahrnehmungsraum verschließen. Wir müssen üben, unsere Wahrnehmung auszudehnen, uns in die Wahrnehmung zu versenken, unseren Gedankenfluss zu kontrollieren und vor schnellem Urteil und Begriffen zu schützen, unser Bewusstsein, unsere Bewusstheit steigern. Es ist ein gleichzeitiges Erleben auf drei Ebenen. Durch die leibbezogenen Sinne habe ich die Wahrnehmung «Ich bin in mir», durch die raumbezogenen Sinne die Wahrnehmung «Ich bin in der Welt, im Raum» und durch die Zeitsinne «Ich bin im Fluss, im Gedankenstrom, in der Geistesgegenwart». Wenn wir schaffen, unsere Sinnesaufmerksamkeit bei vollem Bewusstsein im Raum zu halten und die Spannung auszuhalten, werden wir beobachten können, dass aus der Zukunft, dem zeitlosen Gedankenraum, etwas auf uns zukommt, sich erschließt. Es kann sich in der Architektur die Bauidee, das Wesentliche als ein Wesenhafteres der Architektur zeigen.

Was sehen Sie? Schwarze Linien auf der Fläche. Merken Sie, welche Suchbewegung Ihr Auge durchführt? Sie tasten mit dem Auge die Linien ab. Dann suchen Sie in den Ihnen bekannten Vorstellungen und Begriffen nach Übereinstimmung. Sie haben eine innere Bewegung gemacht. Zuerst waren Sie bei der Zeichnung, dann waren Sie wieder bei sich in Ihren eigenen Vorstellungen.
Das Auge tastet das Bild ab. Sie sehen braune Flächen auf weißem Grund. Das Auge tastet die Flächen ab. Sie suchen nach einem Begriff. Sie erkennen einen Tisch. Den Begriff haben Sie davor schon lange gebildet. Dann ist unsere bewusste Wahrnehmung schnell erlahmt. Dennoch ist noch Weiteres geschehen, das uns nicht unbedingt ins Bewusstsein kommt. Wenn Sie den Tisch abtasten, spüren Sie die Struktur der Holzoberfläche, Sie erleben deren Wärme. Erleben einen langen Tisch.
Wieder sehen Sie auf dieses Foto. Es ist auch ein Tisch, aber ein Tisch im Raum. Auf dem Tisch liegen Gegenstände – Bücher und Geschirr. Wir fragen uns, was geschieht am Tisch? Wird gefrühstückt, wird gearbeitet? Wer nutzt den Tisch? Wir sind jetzt schnell bei den denkorientierten Sinnen. Wir sind wieder bei unseren Vorstellungen, oder haben Sie die Raumstimmung bewusst wahrgenommen?

 

 

 

 

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